Neue europaweit einheitliche Regeln zum Umgang mit Prostitution
Liebe Freundinnen und Freunde,
das EU-Parlament hat im September mehrheitlich – quer über politische Flügel hinweg – beschlossen, europaweit einheitliche Regeln zum Umgang mit Prostitution und zum Schutz von Frauen vor Menschenhändlern einzufordern. Hierbei steht die Einführung des sogenannten Nordischen Modells im Raum. Dieses sieht vor, statt sich prostituierende Menschen vielmehr den Sexkauf unter Strafe zu stellen. Solche Standards gelten bereits in einigen Ländern, darunter Frankreich, Israel oder – namensgebend – Schweden.
Vertreter*innen der Frauen AG und des Vorstands unseres Kreisverbands wollen im neuen Jahr hierzu einen Mitgliederabend anbieten. Auf europäischer Ebene haben wir GRÜNE uns dem Vorhaben gegenüber skeptisch gezeigt. Als ich neulich einen EU-Abgeordneten dazu ansprach, antwortete er (etwas zurückhaltend), die Meinungen gingen in den eigenen Reihen gleichwohl auseinander. Ein anderer Parlamentarier begründete die Skepsis unserer Partei damit, mit dem Nordischen Modell würden sich die „Schattenseiten“ der äußerst liberalen Prostitutionsgesetze in Deutschland nur noch weiter in den Untergrund verschieben. Und dort käme man mit rechtsstaatlichen Mitteln gar nicht mehr an die „Sachlage“ heran.
Wir GRÜNE sind – aus einstiger Perspektive sicher aus gut meinender Reformmotivation – mitverantwortlich für diese „liberale Lage“. Deren Konzepte müssen heute wohl eher als gescheitert betrachtet werden, wenn man auf die ausbeuterische Situation vieler Frauen schaut. Man braucht nur einmal durch unser Bahnhofsviertel zu laufen, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass wir es nicht mit einem gefahrenfreien, geordneten, kontrollierten, ja „normalen“ Gewerbe freier Prostituierende zu tun haben, im Gegenteil.
Ich persönlich befürworte das Nordische Modell. Ein Königsweg ist es natürlich nicht. Viele Auswertungen weisen aber darauf hin, dass sich die Prostitution in betreffenden Ländern – flankiert von Ausstiegsprogrammen – tatsächlich hat eindämmen lassen.
Natürlich gibt es auch Nachteile. Aber im oben genannten Argument sehe ich eher ein Ausweichen vor einer neuerlichen Diskussion in unseren Reihen. Warum sollten gerade wir GRÜNE uns vor einem offenen Meinungsbildungsprozess scheuen? Weil wir uns Korrekturbedarf eingestehen müssten? Weil sich – setzen wir auf ein Modell mit härterer exekutiver Durchsetzung – die ganze Komplexität unserer wichtigen antirassistischen Haltung zeigt? Aus Angst vor den Reaktionen der Lobbyisten des Rotlichtgewerbes? Diese wird es geben; man braucht nur mal einen öffentlichen Post pro Sexkauf-Verbot über die sozialen Medien veröffentlichen; meine Erfahrung: Die harten Antibotschaften aus bestimmten Richtungen lassen nicht lange auf sich warten.
Ob all dem so ist, sei dahingestellt; aber diese Möglichkeiten müssen hintanstehen vor der dramatischen Lage, in der viele (mehrheitlich migrantische) Frauen – und auch manche Männer – stecken. Der Start in eine lautere und die Diversität der Meinungen abbildenden Diskussion kann in vielerlei Hinsicht eine Befreiung sein.
Euer
Sebastian Deckwarth